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Die Vertreibung der jüdischen Schüler in den 1930er Jahren

Dass die politische Lage im Dritten Reich das Schulleben stark beeinflusste, ist in mehreren Quellen dokumentiert; sowohl  in den offiziellen Schülerstatistiken und Chroniken der  Schule, als auch in persönlichen Berichten. Zwei solcher Berichte sind zum Einen die Autobiografie von Stephen F., einem jüdischen Schüler, welcher 1933 die Eingangsklasse der Musterschule eingeschult wurde (entspräche heute der 5.Klasse), und zum Anderen eine Rede eines ehemaligen Schülers, der 2003 das Denkmal für die vertriebenen jüdischen Musterschüler einweihte (zu finden im Gang links!). Natürlich sind die Rede und die Autobiografie zunächst subjektive Erinnerungen und Äußerungen, aber beide Autoren wollten der Nachwelt die Lage an der Musterschule in der NS-Zeit erläutern und stimmen in vielen Aspekten überein, so dass wir die Quellen als glaubhaft betrachten können.

In dieser zeitgenössischen unkommentierten Tabelle, wird die Anzahl der jüdischen Schüler (Schülerinnen gab es nicht, den die Musterschule war bis in die 1960er eine Jungenschule!) im Vergleich mit der Gesamtzahl der Schüler dargestellt. Dabei zählten neben Schülern, die selbst jüdischen Glaubens waren, auch Schüler, deren Vorfahren sich zum Judentum bekannten, zu der Kategorie „jüdische Schüler“. Hierfür muss nur ein Großelternteil jüdisch gewesen sein.

Die Veränderungen sind deutlich: Die Musterschule hatte seit dem 19. Jahrhundert eine relativ hohe Zahl jüdischer Schüler. So waren 1931 von 601 Schülern an der Musterschule noch mehr als 100jüdisch, also fast 20%. Bis 1938 sank die Gesamtanzahl der Schüler um fast die Hälfte, aber auch unabhängig davon wird auch der Anteil der jüdischen Schüler immer kleiner. Im Schuljahr 1933/34 (also kurz nachdem Hitler Reichskanzler wurde) waren nur noch 14,6% der 541 Schüler jüdisch (79), nur ein Jahr später von 489 nur noch 8,6% (42). Das Verhältnis wurde immer ungleicher, bis schließlich 1938 auch der letzte jüdische Schüler gemäß §5 des sog. „Judengesetzes“, das die Teilnahme jüdischer Bürger am öffentlichen Leben massiv einschränkte, die Musterschule verlassen musste.

Diese Zahlen spiegeln sich auch in den Erinnerungen Stephen F.s wider: Mit ihm waren 5 jüdische Schüler in die fünfte Klasse („Sexta“) eingeschult worden; sie waren nur noch zu zweit in der 6.Klasse,

„da die anderen nicht die Feindseligkeit und die körperlichen Angriffe, denen wir ausgesetzt waren, ertragen konnten“

und in der neunten Klasse (1937) wechselte er zuerst auf die jüdische Schule (das Philantropin) und wanderte schließlich im selben Jahr aus.

Jüdische Schüler wurden im Schulalltag zunehmend radikaler ausgegrenzt – was auch die Schulstatistik auf der administrativen Ebene zeigt – und Stephen F. schreibt dazu:

„Am Anfang gelang es mir ein paar „arische“ Freunde zu finden; aber sobald sie den Nazigruppen beitraten, war die Freundschaft aus. Sie weigerten sich sogar, auf der selben Schulbank zu sitzen.“

Dies kam laut ihm vor allem dadurch, dass „ihnen [den Mitschülern in der Hitlerjugend] streng verboten wurde, mit „Nichtariern“ zu verkehren.“

Zunächst im Kontrast dazu findet sich in der Rede die Aussage:

„meine jüdischen Klassenkameraden waren voll integriert und unterschieden sich nicht von den anderen.“

Doch auch der Redner beschreibt die negative Veränderung:

„Über diese blühende Schullandschaft mit intakten menschlichen Beziehungen brach 1933 die braune Flut herein. Die Nazis kamen an die Macht, und damit änderte sich der unbeschwerte Charakter des Schülerlebens. Das geschah nicht von heute auf morgen; die Schrauben wurden langsam angezogen.“

Er erklärt mit den Worten:

Aber immer mehr begann die Nazi-Propaganda auf die nichtjüdischen Jugendlichen zu wirken. Das geschah über das Jungvolk und HJ [Hitlerjugend], denen sich durch verlockende Angebote und äußeren Druck, durch Zuckerbrot und Peitsche, immer mehr Jugendliche anschlossen. Das geschah vor allem durch Propaganda der von den Nazis gleichgeschalteten Medien. Sie riefen immer brutaler, immer ungehemmter zur Judenhetze auf.“,

– weshalb sich auch Stephen F., wie er sagt, wie ein „Aussetziger“ fühlte. So wurden alle jüdischen Schüler vertrieben, selbst wenn sie Freunde hatten, selbst wenn sie sich „ganz zu ihrem Vaterland bekannten“, wie es in der Rede heißt, „Es half nichts.“ Beide Autoren halten fest, dass sich diese Feindseligkeit nicht auf die Lehrer ausweiteten, „die sich, wie mir immer wieder von emigrierten Ehemaligen bestätigt wurde, anständig verhielten.“, andere Berichte widersprechen dieser Darstellung aber in Teilen, bzw. in Bezug auf einzelne Lehrkräfte, was eben zeigt, dass die Rede nicht neutral verfasst wurde, sondern subjektiv eingefärbt ist.

In jedem Fall wurden die jüdischen Schüler zunehmend aus dem Schulleben ausgegrenzt und die meisten wanderten mit ihren Familien aus. Der Redenschreiber fand einige seiner ehemaligen Klassenkameraden in Amerika, England oder Kanada wieder, wo sie sich ein neues Leben aufbauten:

„Heute sind die, mit denen ich noch Verbindung habe, selbstbewusste Amerikaner. Die meisten gehörten im Krieg zur US-Army. Einige kämpften im Pazifik, andere in Europa und marschierten in das Land ein, das sie einst verstoßen hatte. Natürlich haben sie mit Deutschland nichts mehr im Sinn; aber die Erinnerung an die Heimat ihrer Kindheit, an das alte Frankfurt, an Main, an Taunus und Rhein, sind noch lebendig. Und die Gräber ihrer Vorfahren im alten jüdischen Friedhof haben sie nicht vergessen.“

Er erwähnt, aber auch die Schicksale derer, die in Konzentrationslagern gebracht  wurden oder das Schicksal, eines Mitschülers der Selbstmord beging, weil er kaum mehr Zukunftschancen sah. Die Mehrheit der 106 jüdischen Schüler von 1933 gelang aber die Flucht ins Ausland. So fand der Redenschreiber 1982 in den USA 30 ehemalige Musterschüler.

Heute ist etwa 1% der Schüler*Innen der Musterschule jüdischen Glaubens. Wie der Redner sagt, „hat sich [die Musterschule] von diesem Aderlaß nie wieder ganz erholt.“

  • Geschichte-LK 2018, Carla Kohler

Noch eindringlicher wird die Geschichte der Vertreibung der jüdischen Musterschüler am Beispiel eines Individuums:  Hans Louis T. besuchte die Musterschule 1933-36 und erzählt bzw. schreibt anlässlich des 200jährigen Jubiläums der  Musterschule über seine Schulzeit (2003).

1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht im Land und diese Veränderung machte sich das erste Mal am 1. April 1933 bemerkbar, als die Hitler-Regierung einen Boykott der jüdischen Geschäfte anordnete. Die jüdischen Schüler sollten von ihren Lehrern gesagt bekommen, Zuhause zu bleiben. Die Lehrer, welche vom Autor als national (quasi wie zur Kaiserreichzeit) aber nicht als nationasozialistisch gesinnt bezeichnet werden, hatten dabei versucht den jüdischen Schülern dies schonend mitzuteilen “So vermied es unser Klassenlehrer, Studienrat Otto Hepp, uns bloßzustellen“. Selbst für die Lehrer die von diesem Boykott nicht betroffen waren, war es schwer mit dieser Situation umzugehen, denn die meisten waren keine Nazi-Unterstützer. Manche Lehrer waren teilweise sogar Nazifeinde, so wie der Direktor Peter Müller, welcher den Schülern verbot den Hitlergruß zu machen – für seine Haltung musste er 1938 den vorzeitigen Ruhestand antreten.

Viele der Schüler begannen,  der Hitlerjugend beizutreten und wurden angriffslustiger, wie der Autor schreibt.  Diese Situation verschlimmerte sich immer mehr und zwar schließlich so drastisch, dass es zum Alltag der jüdischen Schüler gehörte, sich mit anderen zu prügeln. So begann es, dass jüdische Schüler, wie auch der Autor, sich dem „Schwarzen Fähnchen“ anschlossen, einem jüdischen Jugendbund. Diese Organisation könnte man der Hitlerjugend gegenüberstellen.

Die Musterschule war nun ein Ort, wo täglich Nazi-Unterstützer als auch Nazi-Gegner aufeinander trafen.

Irgendwann wurde immer deutlicher, dass den Juden ein weiteres Leben in Deutschland nicht mehr möglich war. So wurde der Vater des Autors in der Öffentlichkeit von einem Nazi-Unterstützer beleidigt, worauf dieser ihm eine Ohrfeige verpasste. Der Vater bekam dafür eine Geldstrafe in Höhe von 1500 Mark, welche er sofort bezahlte, da man damit drohte, dass sich sonst die Gestapo um diesen Fall kümmern würde. Obwohl man nun denken könnte, dass der Fall nach der Geldstrafe abgeschlossen war, war für den Vater des Autors klar, dass sie auswandern müssen. Das Ziel war dabei die USA.

Der Vater reiste bereits im November 1935 in die USA und Hans Louis folgte im kurz vor den Winterferien. In dieser Zeit zwischen November und Ende Dezember erteilte Oberstudienrat Olbrich, ein Lehrer der Musterschule, vielen jüdischen Schülern zusätzlichen und geheimen Unterricht in Englisch in seiner Privatwohnung, kurz bevor diese ins Ausland flüchteten und riskierte dabei seine Zukunft, und solch ein Verhalten ist zu so einer radikalen Zeit bemerkenswert. Dies zeigt, dass es auch 1935/36 viele gute Menschen unter den Deutschen gab.

  • Kian Serge – Geschichte-LK 2018
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